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2042 – Die verbotene Bibliothek

von Klaudia 'jinxx' Zotzmann-Koch

Lizenz: CC BY-SA 4.0

Eine utopische Novella über zivilen Widerstand in einer Welt zwischen Klimakatastrophe und dem Willen zu positiver Gesellschaftsänderung.

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Leseprobe

Piniengeruch mischte sich in die Stadtluft, herüber geweht vom Vertical Forest zwei Straßenecken weiter. Emma setzte den Fuß auf das Rasengitter außerhalb des Gerichtsgebäudes. Es war der erste Schritt in eine bessere Welt – an einem dieser Tage, nach denen nichts mehr so war, wie zuvor. Einer der Tage, an denen es ein Luxus war, fünf Sekunden die Augen zu schließen, zu atmen und einfach nur zu existieren.

Stimmengewirr wurde lauter, jemand rief etwas, TV-Drohnen surrten heran. Das Medieninteresse war groß. Kein Wunder. Der Bildschirm der ersten Drohne wurde hell, das Video-Bild eines schwarzen Mittvierzigers erschien, Kahin Elmi von EuroNews.
»Emma, wie schön, dass ich Sie gleich erwische!« Das rote Licht an der Kameradrohne leuchtete. Sie war offenbar live auf Sendung. »Können Sie uns etwas zum Gerichtsbeschluss sagen?«

Emma hatte ihre kleine Ansprache im Kopf zigmal geübt, seit sie zugestimmt hatte, Sprecherin des Bürgerrats zu sein. Jetzt keinen Fehler machen. »Kahin, ich freue mich, Sie zu sehen und Ihnen berichten zu dürfen, dass das Gericht den Vorschlag des Bürgerrats in allen Punkten bestätigt und im selben Wortlaut beschlossen hat. Die Privatvermögen der Superreichen werden vergesellschaftet, wirksam ab sofort.«

Die Menschenmenge hinter den auf Brusthöhe in der Luft hängenden Kameradrohnen verschiedener Medienanstalten wurde mit einem Schlag ruhig. Eine ältere Dame am Rand des Auflaufs schob ein klobiges altes e-Bike und grinste Emma an.

Emma nickte, ließ die Nachricht noch einige Sekunden sacken. »Während wir hier sprechen, sind bereits alle Konten mit Privatvermögen über zehn Millionen Euro eingefroren. Eine Liste der Organisationen, die mit den in Kürze freiwerdenden Geldmitteln betraut werden sollen, finden Sie bereits im Netz. Ebenso die gemeinsame Recherche unseres Bürgerrats, der Abteilung Wirtschaftskriminalität des BKA in Wiesbaden sowie den Investigativjournalist:innen der Süddeutschen Zeitung. So haben wir eine detaillierte Aufstellung der Vermögen erarbeiten können, die uns jetzt bei der Umsetzung der Vergesellschaftung hilft.«

Sollten mehr Superreiche noch schnell Vermögen nach Korea oder in die Mongolei geschafft haben, als es durch Zufall möglich war, war die Auswahl der möglichen Verräter klein: insgesamt 18 Personen. Elf davon gehörten zum Bürgerrat, der den ausgearbeiteten Vorschlag vor vier Wochen vorgelegt hatte. Die anderen gehörten zum BKA oder zur Redaktion der Süddeutschen. Und sie alle hatten eine Verschwiegenheitserklärung unterschrieben. Emma war gespannt, wieviel Geld tatsächlich binnen Wochenfrist in die Staatskassen fließen würde. Einige saftige Milliarden sicher.

»Aber die Menschen, deren Vermögen gerade eingefroren werden, waren nicht alle kriminell!«, rief jemand aus der Menschenmenge.
»Das haben wir auch nicht behauptet. Die Abteilung für Wirtschaftskriminalität des Bundeskriminalamts ist deswegen beteiligt, weil sie dort bereits die besten Informationen zu den entsprechenden Konten und Geldflüssen haben.«
Es schien den Fragenden nicht wirklich zufrieden zu stellen. »Und deswegen werden jetzt alle Reichen kriminalisiert?«
»Sie werden nicht kriminalisiert. Ihr Vermögen wird vergesellschaftet. Wir reden auch ausschließlich von Superreichen, die überhaupt mehr als zehn Millionen Euro auf ihren privaten Konten haben. Wir reden nicht von gut situierten Bürger:innen. Es werden auch nur jene Geldmittel eingefroren, die über die zehn Millionen hinausgehen. Wenn Sie zehn Millionen und einen Euro haben, dann betrifft die Maßnahme nur den einen Euro, der über die Grenzmarke kommt. Der eine Euro käme jetzt in den Topf, der in Kürze unter den verschiedenen Organisationen aufgeteilt wird. Darunter sind Krankenhäuser, soziale Einrichtungen und staatliche Bildungseinrichtungen wie Schulen, Kindergärten und auch einige rein staatliche Universitäten ohne superreiche Mäzene. Die vollständige Liste finden Sie, wie gesagt, bereits online.«
Ein Raunen ging durch die Menge. Kahin Elmi meldete sich zu Wort: »Das … ist ein großer Schritt.«
Auch wenn Emma ihn nur über den kleinen Monitor und den quäkenden Lautsprecher der Videodrohne sah und hörte, bemerkte sie, wie ihn die Sache bewegte.
»Sie haben heute Geschichte geschrieben, Emma Johannsen.«
»Dankeschön.« Emma nickte, um Kahin zu signalisieren, dass sie mit ihrem Statement fertig war.

Es kamen weitere Kamera-Drohnen, weitere Fragen aus der Menschenmenge, doch es gab nichts mehr zu sagen. Die meisten der Drohnen hatten fraglos ihre kleine Rede aufgenommen oder sogar direkt live gestreamt. Endlich drehten auch die letzten davon um und surrten ihrer Wege, zurück in die verschiedenen Redaktionen.

»Kommst du noch mit?«, fragte Joy, eine ihrer Bürgerrats-Kolleginnen. »Im Soho ist Twens-Night.«
»Twens-Night? Ehrlich?«
»Ja, Zwanzigerjahre durch und durch. Kleidung und Drinks aus den 1920ern und es gibt Kameras an jedem Tisch, um diese witzigen Kurzvideos der 2020er zu drehen. Die laufen dann auf der Fedi-Site vom Soho bis nächste Woche.«
Emma war schon in den 2020ern kein Fan von Loops und … wie hieß das andere noch? Tick-Tack? Irgendwie so … gewesen. Alles viel zu bunt und zu bewegt. Interviews geben war ja eine Sache, aber bei angeblich unterhaltsamen Videos war sie auf jeden Fall raus. »Na gut. Lass uns feiern gehen.«